Gut Sauen östlich von Bad Saarow

Der Berliner Chirurg August Bier (24. 11. 1861 – 12. 3. 1949), drei Jahrzehnte lang Chef der Berliner Chirurgischen Universitätsklinik, kaufte 1912 das Rittergut Sauen.  Er löste in Sauen die Monokultur aus Kiefern ab durch einen widerstandsfähigeren Mischwald und sein Sohn Heinrich setzte diesen Ansatz für einen gesünderen Wald fort. Heute gibt es hier  460 Gehölzarten, davon allein 17 Tannenarten.  Zur DDR-Zeit bestand hier das Lehr- und Versuchsrevier Sauen und jetzt führt die „Stiftung August Bier für Medizin und Ökologie“ die wissenschaftliche Forschung weiter.

Das Herrenhaus in Sauen ist ein barocker Bau vom Ende des 18. Jhs., umgebaut 1912 und ergänzt um die große Gartenterrasse in der Mitte der 1920er Jahre.

August Bier wurde  in der hessischen Kleinstadt Bad Arolsen geboren und leitete von 1907 - 1932 die Charité in Berlin. Daneben war er als akademischer Lehrer tätig. Er bereicherte die Medizin um verschiedene fortschrittliche Methoden, so z. B. die Lumbalanästhesie, die durch Eingriffe am Rückenmark das Schmerzempfinden derart reduzierte, daß bis dahin nicht mögliche Operationen durchgeführt werden konnten, auch ohne Vollnarkose. Er begründete die deutsche Hochschule für Leibesübungen und war deren erster Rektor, und er gilt als der Erfinder des Stahlhelms 1915, nachdem er sich über die vielfachen Kopfverletzungen durch Granatsplitter entsetzt hatte, die er als Teilnehmer des 1. Weltkriegs an der Westfront mit ansehen mußte. Als Philosoph bekannte er sich zu den Lehrsätzen von Heraklit, als Arzt stand er der Richtung der Homöopathie wohlwollend gegenüber. August Bier starb am 12. 3. 1949.

 

Dr. Stefan Koch, Chefarzt am Heliosklinikum, der in Bad Saarow wohnt, schildert einen Besuch in Sauen im Winter 1978

Eine Reise nach Sauen

Eigentlich sollte meine Beschäftigung mit August Bier (1861-1949) nur eine Episode sein. Während meines Medizinstudiums an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald wurde uns in den Lehrveranstaltungen des Faches Philosophie im Herbst des Jahres 1978 die Aufgabe gestellt, eine Belegarbeit über eine medizinhistorisch bedeutsame Persönlichkeit eigener Wahl zu verfassen. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich häufig auch die Qual. Welche Greifswalder Persönlichkeit konnte man da nur auswählen, über die nicht schon vieles oder gar alles gesagt oder geschrieben wurde? Und schließlich bot die altehrwürdige Universitätsstadt Greifswald ein breites Spektrum bedeutender Gelehrter, die sich innerhalb ihrer Mauern die ersten Meriten späteren Ruhms erarbeiteten. Denken wir an Gerhard Domagk, Paul Grawitz, Heinrich Helfferich, Felix Hoppe-Seyler, Friedrich Löffler, Oskar Minkowski, Ferdinand Sauerbruch, Carl Ludwig Schleich, Paul Uhlenhuth und schließlich auch an August Bier.

Fast beiläufig erzählte mir eine Kommilitonin, die in der Umgebung Beeskows zu Hause war, von einer denkwürdigen Begegnung: Während ihres Pflegepraktikums im damaligen alten Kreiskrankenhaus in Beeskow hatte sie einen schon betagten Patienten, einen Herrn Bier zu betreuen. Der Name Bier, das muss man wissen, war in Beeskow und hier in der Umgebung natürlich allgegenwärtig. Schließlich lebte in Sauen bis zu seinem Tod 1949 der bekannte Geheimrat Professor Dr. med. August Bier und viele der alten Beeskower kannten den Geheimrat natürlich, da er gelegentlich mit Pferd und Wagen oder auch mit dem Automobil die Stadt Beeskow besuchte. Es stellte sich schnell heraus, dass dieser Herr Bier der Sohn des Geheimrates, Forstmeister Heinrich Bier, war, der die Geschäfte in der Forstwirtschaft Sauen führte. Und so entstand die Idee, nicht nur irgendeine bedeutende medizinhistorische Persönlichkeit, sondern eine die sowohl in unserem Studienort Greifswald, aber auch in Beeskow bzw. Sauen verwurzelt war, zum Gegenstand unserer medizinhistorischen Miniatur zu machen: August Bier.

Der Kontakt zur Familie Bier war schnell hergestellt. Frau Ruth Bier, die Gattin des Forstmeisters und zugleich die Schwiegertochter August Biers, war außerordentlich hilfsbereit und bot ihre Unterstützung an. Voller Spannung machten wir uns dann am 16. Dezember 1978 von Greifswald auf nach Sauen. Da Sauen auch schon damals durch öffentliche Verkehrsmittel schlecht zu erreichen war, Beeskow also viel weiter entfernt zu liegen schien, als die nüchterne Entfernungszahl von 10 km vermuten lässt, benutzten wir von Beeskow das Fahrrad. Schon bei der Abfahrt in Beeskow begann es kräftig zu schneien. Je weiter wir von Beeskow aus wegfuhren in dieses unbekannte märkische Dorf mit dem merkwürdigen Namen Sauen, desto dunkler und unheimlicher wurde die Fahrt, desto schmaler wurden scheinbar die Wege. Der Blick zurück zeigte immer noch die kleiner werdende Silhouette der Stadt Beeskow über der sich ein orange-rot leuchtender Winterhimmel spannte. Der Winter der Jahreswende 1978/1979 sollte später ohnehin in die Annalen der Wettergeschichte eingehen. Am 16. Dezember 1978 hätte man jedenfalls das Wetterdebakel der bevorstehenden Jahreswende fast vorausahnen können, denn bei geschlossener Schneedecke und ungewöhnlich dichtem und intensivem Flug der Schneeflocken erreichten wir nach etwa einstündiger Fahrt das Bier´sche Anwesen. Alles war winterlich still und man hatte den Eindruck, die Bewohner des 130-Seelen-Dorfes wären schon zu Bett gegangen. Mit letzter Kraft die hochherrschaftliche Vorfahrt des Bier´schen Gutshauses erreichend, standen wir vor einer majestätischen Eingangstür, die von zwei Kandelabern rechts und links verziert wurde. Sie tauchten das schneeberieselte Portal der Bier´schen Villa und die Vorfahrt, von der sich ein weiter Blick über das Hofensemble ergab, in ein zuckerweißes friedliches Licht. Eine schwere Schneelast lag bereits auf den großen alten Bäumen des Gehöftes, deren Äste sich uns zur Begrüßung zuneigten. Hier nun sollte also der berühmte Geheimrat Professor August Bier gelebt haben.

Nach dem Betätigen des Klingelknopfes – ein Signal war nicht hörbar – passierte zunächst einmal gar nichts. Dann öffnete sich im ersten Obergeschoß links vom Eingang nach außen ein Sprossenfenster. Nur ganz wenige Fenster waren in dem riesigen Gutshaus überhaupt beleuchtet. Ein Herr steckte seinen Kopf aus dem geöffneten Fenster und nahm uns von oben kurz und prüfend in Augenschein. Er verschloss sogleich das Fenster wieder und weitere Augenblicke vergingen. Nein, es war nicht etwa der Buttler, wie man fast hätte vermuten können. Ich erinnere mich an diese Szene noch sehr gut, weil sie wohl in keinem englischen Kriminalfilm hätte besser gedreht werden können. Kurz darauf erschien der Herr des Anwesens Sauen, Forstmeister Heinrich Bier, nun persönlich zur Begrüßung, nachdem er die schwere Eingangstür aufgeschlossen und kraftvoll geöffnet hatte. Ein freundlicher hoch gewachsener älterer Herr, leicht gebückten Ganges mit Stiefelhosen und grüner Forstmanns-Uniform gebot uns, ohne viele Worte zu machen, in die Diele des Bier´schen Hauses einzutreten. Der Dielenfußboden war mit seinem schachbrettartigen Mosaik aus schwarzen und weißen Fliesen geradezu ein Kontrastprogramm zum derzeit weiß verschneiten Erdboden außerhalb des Hauses. Ein alter Kachelofen zur linken Seite und ein großer Holzschrank mit Schnitzereien geradezu zogen die Blicke der eintretenden Besucher auf sich. Die Seitenwände des Raumes waren etwa kopfhoch mit dunklem Holz verkleidet. Darüber waren die Wände und die Decke weiß gestrichen. Über allem krönte ein schmiedeeiserner Leuchter, der kunstvoll mit Abwurfstangen von Rehwild geschmückt war, das Entree dieses historischen Gebäudes. Schließlich folgten wir dem Hausherrn über eine schwarze, Respekt einflößende knarrende Holztreppe in das Obergeschoß. Auf halber Höhe zwischen den zwei gegenläufig angeordneten Treppenanteilen, also hoch über der Stirnwand des Treppenhauses, hing eine in Originalgröße ausgeführte Kopie des Rembrandt-Gemäldes „Die Anatomie des Doktor Tulp“, an der jeder ankommende und abgehende Besucher des Hauses Bier vorbei defilieren musste. Das war schon etwas gewöhnungsbedürftig, verlieh es aber auch diesem Gebäudeteil einen Anflug von zeitloser Würde. Im Obergeschoss befanden sich die Wohnräume der derzeitigen Hausherren. Im Wohnsalon eingetroffen, lernten wir die charmante Hausherrin, Frau Ruth Bier, kennen, die uns nachfolgend bereitwillig und mit sehr großer Detailkenntnis über ihren großen Vorfahren und Schwiegervater August Bier Rede und Antwort stand, sekundiert von ihrem Gatten, Forstmeister Heinrich Bier, der sich aber nur gelegentlich in unser lebhaftes Gespräch einbrachte. Im Zentrum des gut geheizten und mit schweren Vorhängen an den Fenstern versehenen Raumes stand ein unendlich großer längsovaler Tisch. An der Stirnseite in der Nähe des Fensters saß der Chef des Hauses, der wegen der langen Distanz, wir saßen ihm genau an der anderen Seite der Tafel in dem recht dunklen Salon gegenüber, etwas Puppenartiges an sich hatte. Seine Gattin saß rechts an der Längsseite dieses Tisches, der wohl den gesamten Kollegiumsmitgliedern August Biers aus der Medizinischen Fakultät der Charité Platz geboten hätte. Jene hatten sich übrigens mit eingravierten Unterschriften in einem Silbertablett verewigt, das auf der Mitte des Tisches lag und August Bier zu dessen Emeritierung im Jahre 1932 überreicht worden war. Dieser ersten Begegnung mit Frau Ruth und Herrn Heinrich Bier folgten im Laufe der Zeit weitere Treffen, auch als die philosophische Belegarbeit längst mit einem „sehr gut“, an dem Familie Bier einen großen Anteil hatte, absolviert war.

Auf jeden Fall begann mich an diesem Dezemberabend im Jahre 1978 die Vita des deutschen Chirurgen August Bier so zu fesseln, dass ich mich bis zum heutigen Tage in unterschiedlicher Intensität und aus verschiedenen Blickwinkeln mit der medizinhistorisch bedeutenden Persönlichkeit des August Bier beschäftigt habe. Dieser zu seinen Lebzeiten weltbekannte Mann – und das war nach unserem ersten Gespräch schon klar geworden – war offensichtlich nicht nur Arzt, sondern auch passionierter Forstmann („Walddoktor“) und als Anhänger Heraklits zugleich Philosoph.

Übrigens ist die Kommilitonin, die mich zu dieser Winterreise animierte, seit fast 30 Jahren auch meine Ehefrau.

©2010 Ulrike Höhne-Wieynk, Lindenstraße 22, 15526 Bad Saarow, Tel.: 033 631 64 77 -95, dev4u®-CMS